Die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz
Der Intendantenwechsel an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz schlägt – seit er bekannt wurde - hohe Wellen in der Theaterwelt und in den Medien. Kulturstaatssekretär Tim Renner bestätigte im März 2015 im 3sat-Magazin „Kulturzeit“, dass Frank Castorf 2017 die Intendanz der Volksbühne abgeben soll: „Es ist an der Zeit, die Volksbühne mal weiterzuentwickeln und auch weiterzudenken.“ Castorf sei „ein wunderbarer Regisseur“ und werde als solcher der Stadt auch erhalten bleiben. Doch was die Führung des Hauses anginge, müsse man weiter nach vorne sehen.
Nach einem Vierteljahrhundert Frank Castorf übernimmt nun Chris Dercon das Ruder des Kulturdampfers Volksbühne. „Ein Kunstkurator und Museumsmann tritt an die Stelle des Rebellen“ – war zu lesen. Oder wie die Wiener Zeitung formuliert: „Frank Castorf und sein Nachfolger Chris Dercon sind so verschieden wie Tag und Nacht. Hier der zerraufte Ost-Künstler, dort der elegante Kosmopolit. Veteran des Sprechtheaters versus Prophet des Performativen“. „Die Volksbühne war immer ein Widerstandsnest gegen die neue deutsche Selbstzufriedenheit, ein Theatervulkan“, sagt Thomas Martin (seit 2010 Chefdramaturg an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz). Kritiker des Intendantenwechsels befürchten, dass nun öde Eventkultur Einzug hält. Am 1.April 2015 nannte Claus Peymann in einem Offenen Brief an den Regierenden Bürgermeister und Kultursenator Michael Müller den Kulturstaatssekretär Renner „die größte Fehlbesetzung des Jahrzehnts“. Chris Dercon zum Nachfolger von Frank Castorf zu machen, sei grundfalsch. Man müsse sich der besonderen Geschichte des Hauses bewusst sein. „Vernetzten Blödsinn gibt es schon genug“.
Was passiert da gerade? Meine Neugier war geweckt.
Um ein Bild von der Geschichte und den Geschehnissen rund um die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz zeichnen zu können, habe ich als Informationsquellen den Internetauftritt des Theaters genutzt, die Tagespresse und ich hab mir verschiedene Videos zum Thema angeschaut, in denen Mitarbeiter des Theaterbetriebs zu Wort kommen. Denn Relevantes und „Hautnahes“ erfährt man immer von denen, die mitten drin stecken und das Geschehen ebenso erleben.
Noch immer ist die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz das größte Sprechtheater in Berlin. Ihre Geschichte begann 1890, als über 2000 Interessierte im Böhmischen Brauhaus in der Landsberger Allee den Theaterverein „Freie Volksbühne“ gründeten. Mit dieser Volksbühne sollte dem Volk ein eigener Zugang in die Welt des Theaters geschaffen werden. Für die Proletarier, die 10 Stunden am Tag für ein paar Groschen schufteten, waren Theaterbesuche viel zu teuer. Sie waren ausgeschlossen aus der Kultur der wilhelminischen Klassengesellschaft. Für Vergnügungen blieb ihnen allein der Rummelplatz. Die Vereinsmitglieder zahlten nun monatlich mindestens 25 Pfennig ein und erhielten dafür Theaterkarten zum halben Preis. Der Verein mietete Theatersäle an, in denen Dramen wie Gerhart Hauptmanns „Weber“ - geschützt vor der Preußischen Zensur - aufgeführt wurden. Mit den steigenden Zuschauerzahlen wurde die Idee geboren, ein eigenes Haus zu bauen.
Der gewaltige Bau entstand im ehemaligen jüdischen Scheunenviertel – heute ein Szenebezirk in Berlin-Mitte, damals wohnten hier die Ärmsten der Armen: Lumpenproletariat, Kleinkriminelle, sozial Gestrandete. Das Viertel galt als eine der übelsten Gegenden Berlins. Kriminalität, Prostitution, Krawalle gehörten hier zum Alltag. Um diesen Unruhebereich zu befrieden, entschieden sich die Stadtplaner 1902 für einen riesigen Kahlschlag. Es entstand der neue Babelsberger Platz.
Damals hatte der Polizeipräsident Wind davon bekommen, dass der Verein „Freie Volksbühne“ ein eigenes Theater bauen wollte und so bat er seine Majestät Kaiser Wilhelm II, diesen Platz an den Verein zu veräußern mit dem Hintergedanken: „Wenn die Proletarier hier erst ihren Kunsttempel errichtet haben, dann werden sie doch wohl aufhören, mit Steinen zu schmeißen.“ Und so verkaufte der Kaiser der Volksbühne den Platz. Um den Theaterbau realisieren zu können, gründete der Verein 1909 einen Baufonds, in den die Mitglieder den sogenannten Arbeitergroschen einzahlten.
Die Groschen der 70.000 Vereinsmitglieder summierten sich zu 2 ½ Mio. Mark. Zusätzlich gewährte der Kaiser einen Kredit von 2 Mio. Mark.
Aus dem Babelsberger Platz wurde der Bülow-Platz und am 14.9.1913 erfolgte hier die Grundsteinlegung.
Der erste Weltkrieg begann, doch der Bau wurde ohne Verzögerung fertiggestellt und seine Absicht über den Eingang gemeißelt: DIE KUNST DEM VOLKE. Es war ein Theater für 2000 Besucher entstanden, ausgerüstet mit modernster Technik. Zur Eröffnung am 30.12.1914 betont Festredner Julius Bab: „Die Volksbühne ist das erste Theater, das nicht von einem wagemutigen Unternehmer, nicht von der Gunst eines Fürsten, noch von der väterlichen Gunst einer Behörde geschaffen, sondern von der kunstbedürftigen, kunstwilligen Menschengemeinschaft aus eigenen Mitteln zu eigener Lust errichtet ist.“
Man wollte ein Theater haben, wo jeder als Gleicher unter Gleichen sitzt, deshalb kostete jede Theaterkarte das gleiche Geld und die Lostrommel entschied, wo man letztendlich zu sitzen kam. Durch den Krieg verlor der Verein Mitglieder und Geld. Nach der ersten Spielzeit überließ der Vorstand dem Theaterprinzipal Max Reinhardt die Leitung des Hauses (1915-18), der es als Nebenspielstätte des Deutschen Theaters finanziell durch die Kriegsjahre rettete. Nach dem Krieg blieb die Volksbühne eine „feste Burg“ der Sozialdemokratie.
Erwin Piscator kam 1924 als Oberspielleiter an die Volksbühne und machte gleich doppelt Revolution. Mit Proletkult und multimedialen Spektakeln, in denen riesige Projektionsgrafiken von George Grosz und gewaltige Filmbilder das Bühnengeschehen überragten, lieferte er schlagkräftige Bilder eines entfesselten Theaters. Zum Eklat kam es mit der Uraufführung von Ehm Welks „Gewitter über Gotland“ 1927, als Alexander Granachin in der Maske von Lenin auf der Bühne immer wieder getötet wurde, um auf der Filmleinwand in neuer Gestalt immer wieder aufzustehen. Der Vereinsvorstand sah die politische Parteineutralität der Volksbühne verletzt und feuerte Piscator.
Während der Weimarer Republik war der Bülowplatz oft Ort von Auseinandersetzungen zwischen Kommunisten, Nationalsozialisten und Polizei. 1926 richteten Kommunisten im „Karl Liebknecht Haus“, einem ehemaligen Fabrikgebäude neben der Volksbühne, das Hauptquartier der KPD ein. Immer wieder kam es zu Straßenschlachten, bei denen die Polizei hart durchgriff. 13.000 Polizisten waren es am 1. Mai 1929. Sie schossen auf streikende, demonstrierende Arbeiter, 33 starben. (Blutmai).
Bertolt Brecht war gegenüber der Volksbühne bei seinem Freund Fritz Sternberg zu Gast und beobachtete vom Fenster aus die Geschehnisse. Er war so geschockt, dass er in Ohnmacht fiel. Als er leichenblass wieder aufstand sagte er, mit Literatur allein geht’s nicht, man muss sich agitativ verhalten. Er fing an, die Lehrstücke zu schreiben und hat sein Theater radikal politisiert.
1930 wurde in der Nähe der Volksbühne der SA Sturmführer Horst Wessel erschossen. 1933 erhielt der Platz vor der Volksbühne seinen Namen. Der Volksbühnenverein wurde liquidiert, das Theater dem Propagandaapparat von Josef Goebbels unterstellt. Auf dem Spielplan standen Molière, Kleist, Schiller und Shakespeares Romeo und Julia.
1943 zerstörte eine Splitterbombe den Bühnenturm. Das Theater am Horst-Wessel- Platz stellte den Spielbetrieb ein und wurde zur Ausrüstungsstelle für den Berliner Volkssturm umfunktioniert. Im Endkampf um Berlin brannte das Gebäude bis auf die Außenmauern aus. Erst 1954 wurde aus der Ruine wieder ein Theater: Die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz.
Ein Theatersaal mit Präsidentenloge und Platz für 1200 Besucher. Die Volksbühne gehörte nun zu Ostberlin und der DDR. Bereits 1950 waren alle Theater des Landes verstaatlicht worden. Der Volkbühnenverein als selbstständige Besucherorganisation war längst aufgelöst. Der Forderung DIE KUNST DEM VOLKE bedurfte es nicht mehr. Das galt im sogenannten Arbeiter- und Bauernstaat nun als selbstverständlich: Theater für alle zu erschwinglichen Preisen. Als hauptstädtisches Theater in der DDR hatte die Volksbühne Gegenwartsstücke und modernes Regietheater im Spielplan.
„Theater hat auch einen Bildungsauftrag,“ sagt Thomas Martin, Chefdramaturg an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. „Es vermittelt Bildung auf unterhaltende Art. Es hat keine Relevanz, wenn es nicht einen politischen Anspruch hat, den Anspruch, sich selbst zu verändern, die Verhältnisse, die nicht gut sind, so wie sie sind, zu verändern. Und wenn man sie schon nicht ändern kann, so sollte man sie wenigstens benennen. Dieses Benennen ist auch eine Aufgabe von Theater. Das hat unter der restriktiven Politik der DDR der Journalismus nicht wahrnehmen können, deshalb hatte das Theater eine Ersatzfunktion und war auch so wichtig. In der DDR konnte man im Theater mehr Dinge formulieren oder behaupten – auch mit den Klassikern – als man in der Zeitung sagen konnte. Meinungsäußerung war im Theater leichter durchführbar als in der staatlich gelenkten Presse.“(Thomas Martin)
Von 1969 – 1977 war Benno Besson zunächst als künstlerischer Leiter, später als Intendant an der Volksbühne, ein Schweizer Kommunist und Brecht-Gefährte. Er revolutionierte das Theater wie vorher Piscator. Sein Kampfmittel gegen allzu biederen Sozialismus war die Heiterkeit. „In der Ära Besson, der bei Brecht gelernt, am Berliner Ensemble gearbeitet hat und dann an die Volksbühne kam, wurde im Rahmen der ideologisch ja stark eingegrenzten Möglichkeiten in der DDR ein ganz lebendiges Theater gemacht mit einer starken Anbindung ans revuehafte Theater von Piscator. Besson hat die Spektakel erfunden, die Theater mit Volksfesten verbunden mit einer speziellen politischen Ausrichtung. Er hat viel Zeitstücke, viel Gegenwartsstücke gemacht und hat im Prinzip auch die Grenzen des Theaters gesprengt – so wie das dann Castorf, der sehr von Besson und von der Volksbühne der 70er Jahre geprägt war, wieder angefangen hat.“ (Thomas Martin)
Am 7.10.1989 begann an der Volksbühne, was einen Monat später zur größten Demonstration in der deutschen Geschichte führte. Während Polizisten am Republikgeburtstag in vielen Städten auf Demonstranten einprügelten, beschlossen Schauspieler und Bühnenarbeiter, etwas zu unternehmen. 10 Tage später beantragten Berliner Theatermacher eine Demonstration bei der Volkspolizei, die auch genehmigt wurde. Die Volksbühne war Mittelpunkt der Vorbereitungen. Am 4.11.1989 standen hunderttausende Menschen auf dem Alexanderplatz und forderten auf Transparenten und Plakaten Meinungs- und Versammlungsfreiheit.
11 Monate später gab es die DDR nicht mehr. 11 Tage vor ihrem Ende tobten Schillers Räuber über die Volksbühne. Regie: Frank Castorf. Bühnenbildner Bert Neumann hatte das laufende Rad – einst Geheimzeichen der Räuber und Wegelagerer - für die Castorf'sche „Räuber“-Inszenierung entworfen. Das Rad galt als Logo des neuen Rebellentums an der Volksbühne. 1992 wurde Frank Castorf zum Intendanten berufen. „In zwei Jahren ist die Volksbühne entweder tot oder berühmt“ lautete die Prophezeiung für seine Amtszeit. Die Volksbühne musste sich neu erfinden und kämpfte ums Überleben.
Zwei Jahre danach, am 11.7.1994 titelte die Berliner Zeitung: „Die Volksbühne nach zwei Castorf-Jahren: das radikalste Schauspielhaus - Anarchie im Staatstheater. Die jungen Wilden, die vor zwei Jahren die Volksbühne okkupierten, machten ihr Haus zu Berlins vitalstem Theater: Wahre Helden der Arbeit produzierten in den beiden Castorf-Spielzeiten 20 Inszenierungen auf der großen Bühne … Dazu kamen zehn Stücke im dritten Stock und unzählige Gastspiele, Tangonächte, Rockkonzerte und exzessive Partys -ein gewaltiger Output. … Hier ist Theater keine Stätte gediegener Unterhaltung, sondern eine Zumutung: Statt Kulturkonsum die Unruhe der Zeit. Woher rührt der enorme Erfolg des Hauses? Offenbar trifft Castorfs überhitzter Stil den Nerv unserer Umbruchsära…Theater auf der Höhe der Zeit -- das heißt heute vielleicht chaotisches, aggressives Theater, das keine klaren Weltbilder serviert. Gerade das Pendeln zwischen Sehnsucht und Verlust, Ratlosigkeit und Hysterie macht die Volksbühne derzeit zum politisch radikalsten deutschen Theater. … So waren Castorfs Räuber … ein scharfsinniger, wütend-melancholischer Kommentar zur Wiedervereinigung; Abgesang auf die verblichene DDR und skeptischer Blick aufs neue Deutschland in einem. Ihre ästhetischen Mittel entwickeln Castorf & Co. in der Konfrontation mit der Populärkultur. Castorf hat vorgeführt, wie man die altehrwürdige Theaterkunst durch Schocks der Subkultur verjüngt: Sex & Drugs & Rock‘n‘Roll als Frischzellenkur für die moralische Anstalt. …“
Die Volksbühne wurde im wiedervereinten Berlin zur Identifikationsbude zwischen Zerfall und Aufbruch. Kein anderes deutsches Theater spiegelte in den 90er Jahren so eigensinnig die Konflikte der Zeit. Castorfs Volksbühne prägte eine Epoche und einen Stil. Einen Theaterlebensstil, mit vielen Handschriften: Castorf, Pollesch, Fritsch, Marthaler, Schlingensief.
„Die Volksbühne war eine Kulturinstitution mit einem Weiterbildungsanspruch: dem einfachen Arbeiter den Theaterbesuch zu ermöglichen, sich geschichtlich, literarisch zu bilden, sich zu unterhalten. Der Grund, warum dieses Theater erbaut wurde, war immer die Verbindung von proletarischem Milieu und von intellektuellem Milieu. Aber das Umfeld der Volksbühne hat sich mit den Jahren gewandelt. Die Szene, die hier sehr wichtig war, die sich aus Randbezirken gespeist hat, ist weggezogen. Die Volksbühne ist noch da, sie ist der Grabstein eines Bezirks, der mal sehr lebendig war. Viele, die das Leben hier definiert haben, können sich das Wohnen hier nicht mehr leisten. Die gut situierten, die jetzt hier leben, wollen natürlich ein ganz anderes Theater sehen. Das ist traurig, aber man muss auch dagegen ein bisschen angehen, auch diese Leute verschrecken und ihnen sagen, dass Theater nicht nur zur Unterhaltung und kein Sättigungsfaktor ist. Theater ist immer ein Stachel und es hat keinen Sinn, wenn es nicht umstritten ist.“ (Thomas Martin)
Doch nun ist Schluss. Am 1. Juli 2017 endete nach 25 Jahren die Intendanz von Frank Castorf und der belgische Kurator und Museumsleiter Chris Dercon, bis dahin Direktor der Tate Gallery of Modern Art in London, übernahm die Leitung der Berliner Volksbühne. Es gab noch einmal einen Offenen Brief, unterschrieben von Theaterwissenschaftlern, Kritikern und Kulturprominenten, in dem darauf hingewiesen wird, dass die Pläne von Castorfs Nachfolger, dem belgischen Kulturmanager Chris Dercon, dem im Haushaltsplan verankerten Auftrag der Volksbühne nicht gerecht werden:
Der Auftrag: „Die Volksbühne ist ein im Ensemble- und Repertoirebetrieb arbeitendes Theater und versucht in der Tradition von Erwin Piscator und Benno Besson eine Synthese von Inhalten und Mitteln der Avantgarde mit der Tradition eines sozial engagierten Theaters. Das Schauspielangebot der Volksbühne wird um Tanz- und Musikangebote erweitert.“ (Haushaltsplan)
Am 1.Juli 2017 hat sich Frank Castorf mit einer vierstündigen Inszenierung von Ibsens „Baumeister Solness“ unter frenetischem Applaus des Publikums von der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz verabschiedet.
„Wird es noch einmal ein Theater mit solcher Wucht geben? Von solcher überfordernden Maßlosigkeit? Solcher aggressiven Zugewandtheit? Solcher überdrehten Wachheit? Solcher seelenaufreibenden Schonungslosigkeit? Solcher diebischen Daseinsfreude? Solcher selbstgefährdenden Krisensucht? Solcher blindwütigen verschworenen Liebe? Und: Würde man ein solches Theater noch einmal aushalten?“ („Zu die Bude“ von Ulrich Seidler, FR 30.06.17)
Diese Fragen sollten eigentlich das Ende dieses Beitrags markieren, aber in den letzten Septembertagen brachten Geschehnisse an der Volksbühne sie tagelang wieder in aller Munde. Ich werde sie in Form von Tickermeldungen noch anfügen.
Zuvor möchte ich noch erwähnen, dass die „Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz“ in diesem Jahr zum "Theater des Jahres" gewählt wurde. Im jährlichen Bühnenranking der deutschsprachigen Theaterkritiker kam sie auf Platz eins. (Fachzeitschrift "Theater heute") Nach 1993 und 2016 erhielt sie diese Auszeichnung nun zum dritten Mal.
Am 10.09.2017 startete Chris Dercon mit „Fous de danse“, einem Tanzmarathon, in die neue Saison und zwar am zweiten Spielort des Hauses, dem Hangar 5 auf dem Tempelhofer Flughafengelände. Im Haupthaus geht es erst am 10.11. los und im September begannen dafür die Proben.
+ Am 22.09. melden verschiedene Zeitungen, dass die Volksbühne am Nachmittag von etwa hundert Aktivisten und Künstlern besetzt worden ist. Sie nennen den Vorgang nicht „Besetzung“, sondern „transmediale Theaterinszenierung“. Ans Gebäude haben sie ein Riesenbanner geheftet mit dem Schriftzug „Doch Kunst“. Auf einem Flugblatt kündigen sie, das Künstlerkollektiv „Staub zu Glitzer“/„VB 61-12“ die „dauerhafte Übernahme des Hauses als eine darstellende Theaterperformance“ an und dass für die nächsten drei Monate ein Programm aus Gastspielen, Festivals und Tagungen geplant sei. Den Senat habe man gebeten, Dercon für die dreimonatige Besetzung eine alternative Spielstätte zur Verfügung zu stellen. Auf einer Pressekonferenz im Volksbühnen-Foyer gibt die neue sogenannte Kollektivintendanz bekannt, dass sich diese Aktion nicht gegen Chris Dercon richte, sondern man wolle sich damit gegen ein Berlin „des Standortmarketings, der Investitionsanreize, der sozialen Ausgrenzung, der Abschiebungen, der Gentrifizierung“ stellen. Die Volksbühne solle zum Zentrum gegen Gentrifizierung werden, in dem es auch ein „Parlament der Wohnungslosen“ geben soll.
Am Abend veröffentlicht der Berliner Kultursenator Klaus Lederer (Linke) ein Statement, in dem er Gespräche mit den Besetzern ankündigt, ihr Vorgehen aber kritisiert.
Bei Facebook schreibt er:
Klaus Lederer
22. September um 19:47 •
Kunstfreiheit ist immer auch die Kunstfreiheit der Andersperformenden!
Ja, der Kampf um Freiräume ist wichtig und notwendig. Er ist mir ein zentrales politisches Anliegen. Aber der Kampf um Freiräume kann nicht dadurch geführt werden, dass existierende Freiräume - ob mir gefällt, was dort passiert oder nicht - privatisiert und unter eine angemaßte Kontrolle gestellt werden.
Die Volksbühne ist ein öffentliches Haus. Es wird mit öffentlichen Mitteln bespielt, über die Intendanz auf demokratisch legitimiertem Weg entschieden. Man kann solche Entscheidungen kritisieren - was ich auch getan habe -, man kann solche Entscheidungen für falsch halten. Was nicht geht und was auch nicht progressiv ist: Die Intendanz daran zu hindern, ihre Arbeit zu machen und sie dem Lob oder der Kritik auszusetzen. Zur Kunstfreiheit gehört auch, sie den anderen zuzugestehen.
Freiräume werden aktuell durch die ökonomischen Verhältnisse einerseits und durch politischen Druck, vornehmlich von rechts, bedroht.
Die These, eine kulturpolitische Personalentscheidung vernichte Freiräume, ist absurd. Wer entscheidet denn und wer darf darüber entscheiden, was die „richtige“ Kunst am Ort ist? Wer oder was legitimiert denn die Besetzer*innen dazu, ultimativ anzuordnen, dass ihre Vorstellung von der Nutzung der Volksbühne Berechtigung beansprucht und andere nicht?
Es ist begrüßenswert, dass die Besetzer*innen Verhaltensregeln formulieren, um die Gebäudesubstanz zu schützen. Garantieren kann das, wer „alle einlädt“, überhaupt nicht. Und ist diesbezüglich auch niemandem demokratisch verantwortlich und rechenschaftspflichtig. Deshalb führen wir Gespräche mit den Besetzer*innen und machen Angebote, die ihnen ermöglichen, ihre Positionen in einem vereinbarten Rahmen auszudrücken. Sie können entscheiden.
https://www.facebook.com/DrKlausLederer/posts/1580155568703515
+ 23.09. In der Nacht gibt es Gespräche zwischen den Aktivisten, der Kulturverwaltung und dem Volksbühnenteam. Auch Chris Dercon und Klaus Lederer sind bis früh morgens anwesend, Themen sind die Forderungen der Aktivisten, Ersatzobjekte für die Besetzung und Kompromisslösungen. Die Gespräche verlaufen ergebnislos. Eine Räumung sei nicht geplant, so der Sprecher der Berliner Kulturverwaltung. Am Abend Gespräch zwischen Chris Dercon, Klaus Lederer, dem Geschäftsführer und dem technische Direktor der Volksbühne zum Thema Sicherheit und Verantwortung.
+24.09. Am Nachmittag gibt es eine Mitteilung von Chris Dercon und Programmdirektorin Marietta Piekenbrock: Sie verurteilen keineswegs die Besetzer und ihre stadtpolitischen und sozialen Themen, die wichtig sind für Berlin. „Aber wir verurteilen die unverantwortliche Art und Weise, wie sie sich das Haus gegriffen haben. Trotz ihrer Bemühungen stellen die Besetzer ihre Anliegen über die Sicherheit unserer Mitarbeiter und die ihres eigenen Publikums. Und sie stellen sich in beispielloser Anmaßung über unsere Künstler und deren Arbeit. Am Montag soll an der Volksbühne der unterbrochene Probenbetrieb wieder aufgenommen werden. Das geht nicht mit den Tag- und-Nacht-Veranstaltungen und Partys der Besetzer zusammen.“ Chris Dercon zum Schluss: „Diese Besetzung ist nicht hinnehmbar. Wir fordern, dass die Politik jetzt dringend ihrer Verantwortung nachkommt und handelt.“ Von der Kulturverwaltung gibt es am Sonntag keine Stellungnahme.
+25.09. Am Montagmorgen findet eine Versammlung der Volksbühnenmitarbeiter unter der Leitung von Dercon statt, wo es eine große Solidarität gegen die ungebetenen Gäste gibt. Montagabend erklärt Klaus Lederer, er stehe in „permanenten“ Verhandlungen mit Chris Dercon und den Besetzern; er setze auf „Deeskalation statt Konfrontation“.
+26.09. Am Nachmittag startet eine neue Verhandlungsrunde, geleitet von Chris Dercon, mit Besetzern, Volksbühnen-Mitarbeitern, Kulturstaatssekretär Klaus Wöhlert und weiteren Vertretern der Senatsverwaltung. Die Forderung, sich die Volksbühne mit einer kollektiven Intendanz anzueignen, sei nicht erfüllbar. Dercon bietet den Besetzern an, „für die Durchführung ihrer künstlerischen Angebote und zur Diskussion ihrer wichtigen stadtpolitischen Anliegen“ den Grünen Salon sowie den Pavillon in der Volksbühne dauerhaft nutzen zu können. Zugleich sollten geplante Theaterproben und der Start der neuen Spielzeit sichergestellt werden.
+27.09.Am Mittwochabend wird in einem Plenum mit Dercon, Lederer und dem Besetzerkollektiv das Kompromissangebot diskutiert und es soll darüber abgestimmt werden: Die Diskussion geht bis weit in die Nacht, bleibt ergebnislos, die Abstimmung wird verschoben. Dazu kommt es aber nicht mehr.
+ 28.09.Am Morgen riegelt die Polizei die Straßen rund um die Volksbühne ab. Etwa 200 Einsatzkräfte sind vor Ort. Die Polizei twittert, man sei im Dialog mit Herrn Dercon. „Wir werden Herrn Dercon jetzt in die #Volksbühne begleiten. Dort wird er die Anwesenden bitten, das Gebäude zu verlassen.“ Dercon bittet die Medienvertreter aus dem Gebäude. Nach und nach verlassen die Aktivisten das Gebäude. Dann, um die Mittagszeit, stellt Chris Dercon gegen noch Anwesende Strafanzeige wegen Hausfriedensbruchs. Die Polizei beginnt, das Haus zu räumen und führt bzw. trägt die letzten Besetzer aus der Volksbühne. Damit ist die Besetzung beendet.
Klaus Lederer erklärt am Nachmittag, er bedauere, dass es nicht zu einer politischen Lösung des Konfliktes gekommen sei. "Die Volksbühne ist ein öffentliches Theater, mit öffentlichen Mitteln finanziert, ist zweckbestimmt und steht nicht leer." Eine Konfliktlösung sei daher nur unter der Bedingung möglich, dass die Räume für den Probebetrieb geöffnet werden, damit die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dort arbeiten könnten. "Die Volksbühne hatte den Besetzerinnen und Besetzern ein auf Kompromiss orientiertes, gutes Angebot unterbreitet. Die Gruppe hat dies nicht angenommen. Ich bedaure sehr, dass es nicht gelungen ist, in der Volksbühne künstlerische Arbeit und stadtpolitische Debatten in einem geregelten Rahmen gleichermaßen zu ermöglichen." - "Es fällt schwer, so eine Entscheidung treffen zu müssen", heißt es von Dercon zu der Räumung. "Seit Freitag haben wir mit immer wieder wechselnden Vertretern der Besetzergruppe gesprochen. Wir konnten keinen gemeinsamen Weg finden."
Er danke allen Mitarbeitern und Künstlern der Volksbühne „für ihre Geduld, Unterstützung und Solidarität“. Ab Freitag werde nun der Probenbetrieb wieder aufgenommen.
Man kehrt zurück zur Tagesordnung. Was bleibt?
Gereon Asmuth hat in der TAZ zur Räumung der Volksbühne einen Kommentar geschrieben. Daraus möchte ich zum Abschluss des Beitrags gern zitieren: „Das, was die Besetzer in wenigen Tagen auf die Beine gestellt haben, war ohne Zweifel das Theaterevent des Jahres. … Der Hauptact war das Plenum, bei dem täglich Hunderte mit aller Leidenschaft um die Zukunft dieses Theaters gerungen haben. Und um die der Stadt. Ein einmaliges Experiment, bei dem man tief in der Nacht erleben konnte, wie ein Kultursenator die Fassung verliert, an dem man anderntags einen Mitarbeiter der Bühne, der sich als Proletarier vorstellt, mit den Besetzern anlegt, die sich auch selbst infrage stellten. Immer wieder aufs Neue.
Trotz aller Gegensätze bildete all dies ein einzigartiges Miteinander. … Hier ging es nicht nur um die Bretter, die die Welt bedeuten, sondern darum, die Welt tatsächlich zu verändern. Ein Geschenk an die Stadt, die nichts nötiger hat als einen offenen Streitraum. Einen Ort, wo sich die Menschen einbringen.“ (Gereon Asmuth: „Ein einmaliges Experiment“ 28.09.2017 http://www.taz.de/!5448288/ )
Das Schlusswort soll Bertolt Brecht haben:
"Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen
Den Vorhang zu und alle Fragen offen."
Quellen:
Homepage der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz,
zahlreiche Aussagen in diesem Beitrag stammen von Thomas Martin, Chefdramaturg der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz,
aus: THEATRE/POLITICS I: Thomas Martin / Volksbühne Berlin, Video vom 23.12.2011 Thomas Martin, theheadofdramaturgy in Volksbühne Theatre Berlin, talksabout: 1) Volksbühne Theatre, 2) The Task OfTheatre, 3) The RelationshipBetween Art And Politics, 4) Theatre As Anticapitalistic Project In Volksbühne Theatre, 5) WhatShouldUrgentlyBeDone On Stage. German with English subtitles. (20 min).
Weitere Informationen habe ich der TV Sendung (rbb) „Geheimnisvolle Orte: Die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz“ entnommen.
Im Kapitel „Besetzung der Volksbühne“ habe ich die Informationen den zahlreichen Artikeln des Berliner TAGESSPIEGEL zum Thema entnommen.
Text: Evelyne Dörning
(c)
Collagen: Evelyne Dörning
Foto: Pixabay