Sie sind hier: Startseite > Geschichten > Orange

Orange

Sanft wie die abendsonne liegt sie in ihrem gärenden bett aus plastikflaschen, lappen, die sich feucht und warm anfühlen, graue masse, die mal eine zeitung war, und etwas dunklem, feuchtem, worauf glänzende fliegen sitzen.

Noch zögert er, sieht sich um, aber keiner hat es gesehen, er steht allein dort oben, hoch auf der halde, wohin sich niemand traut, denn sie könnte nachrutschen, wenn man den da noch lose aufgeschütteten müll zu sehr belastet. Er aber ist klein und leicht und die brauchbarsten sachen findet man dort, wo die anderen nicht suchen, auch kann ein kleiner, leichter hier oben seine funde unbeobachtet liegenlassen, bis es dunkel ist, um sie zu holen, wenn die anderen aus angst vor den ratten nicht mehr auf der halde sind. So nimmt sie ihm niemand weg, denn es gibt große, die beim suchen immer wieder aufschauen und darauf achten, ob vielleicht ein kleiner so aussieht, als ob er etwas gefunden hat, das etwas einbringt.

Er schaut hinab auf die anderen, die da unten gebückt wühlen, suchen, graben, eifrig, denn der tag neigt sich, es ist warm, weil die halde sich unter der sonne aufheizt, es riecht nach nassem abfall, manchmal stechend nach allem, was hier liegt. Abends nehmen sie den geruch der halde mit heim in die hütten, deren ansiedlung nur ein paar autominuten von der halde weg stillschweigend geduldet wurde.

Denen, die auf den anderen hügeln graben, schenkt er nur einen kurzen blick, denn die sind viel zu weit weg, um ihm etwas fortnehmen zu können. Er hat keine vorstellung davon, daß die vielen menschen, die da einzeln auf den müllbergen herumkriechen, einem ameisenhaufen nicht unähnlich sind, denn einen ameisenhaufen, wie es ihn im wald gibt, hat er noch nicht gesehen.

Ganz kurz nur dreht er seinen glücklichen fund in den händen. Die orange hat nur eine kleine faule stelle, sonst ist sie wunderschön. Ihm ist, als ob ihr strahlen die schmerzen seiner hände lindert. Da ist eine kräftig lilafarbene halbe plastikflasche, in die er sie vorsichtig legt, so ein seltenes lila hofft er später in der dämmerung leicht wiederzufmden.

Eine weile beschäftigt er sich damit, die dicken fußwickel festzuziehen, die sie alle hier tragen, um sich an den scharfkantigen konservendosen und zerrissenem plastik nicht auch noch die füße zu zerschneiden. An den händen, die sie alle nicht schützen können, haben sie eitrige rißwunden, gerissen beim wühlen im müll, vereitert beim suchen im müll und erneut aufgerissen beim graben im müll. Meist benutzen sie grabstöcke, aber die taugen nur zum auflockern und freilegen, fast immer verhakt etwas, fast immer müssen sie ihre hände benutzen. Gut sind die stöcke, um die vögel zu verjagen, die sonst wild und hungrig kreischend herabstoßen, manchmal auch mit ihren schnäbeln die menschen verletzen. Es sind zu viele vögel, denn die halde ernährt auch die schwächeren, zu viele kranke junge werden groß, und bekommen noch kränklichere junge. Jemandem, dessen ohren den lärm nicht gewöhnt sind, würde das stete böse vogelgeschrei den verstand rauben. Heute hört man sie aber nur von ferne, etwas entfernt hat eine fleischfabrik abgeladen, ein festtag für die vögel. Die leute meiden die fleischabfälle der fabrik, nachdem es einmal zwei tote und viele fleischvergiftungen gegeben hat.

Dann gräbt er halbherzig ein bißchen von der stelle mit der lila plastikflasche entfernt weiter. Er hofft auf den abend, auf die kälte, die ganz plötzlich einbricht, sobald die sonne untergeht, sonst ist ihm der tag zu kurz, heute will es nicht abend werden. Er hat eine schwester, noch kleiner und leichter als er, die nie auf die halde gehen wird, weil sie rachitis hat, und die nachbarinnen, die alle viel erfahrung mit vielen kindern haben, immer kopfschüttelnd sagen, die geht ein. Er freut sich, daß er seiner schwester etwas besseres bringen kann als klebstoff. Die flasche mit dem klebstoff trägt er immer bei sich, hütet sie vor der mutter, die sie ihm wegnehmen und selbst verbrauchen würde. Abends, wenn die mutter geht, holt er immer die flasche aus seinen kleidern hervor. Heute wird er etwas dazulegen. Diese pralle leuchtende orange mit der ganz kleinen faulen stelle wird er auf die kiste legen und es wird so aussehen wie die obstschalen auf den tischen in den eßzimmern der in den fernsehserien gezeigten wohnungen. Er hat diese serien geliebt, und auch die werbung zwischendurch hat er sich aufmerksam angeschaut, und davon geträumt, mit seiner schwester so zu leben, aber dann ist leider das fernsehgerät kaputtgegangen, das ein verlobter dagelassen hatte, der eines tages nicht mehr heimkam. Er muß wohl tot sein, denn hätte er seine mutter verlassen wollen, hätte er bestimmt sein fernsehgerät und seine guten schwarzen schuhe mitgenommen.

Aus den augenwinkeln beobachtet er, daß immer mehr von den anderen sich auf den heimweg machen. Schließlich sieht er nur noch eine frau, die eifrig wühlt. Sie sieht ihn an, hungrig lauernd, schmutzig, verschmiert. Sie gräbt verzweifelt. Er kennt sie, sie wohnt in der nachbarschaft unter einer plastikplane und hat zwei kleine kinder, so rachitisch wie seine schwester. Sie hat bis jetzt nichts gefunden und will nicht begreifen, daß sie nichts gefunden hat, nichts zum essen und nichts zum verkaufen. So hastig sucht und wühlt sie, daß sie sich jetzt auch noch in den arm schneidet, laut weinend bricht sie zusammen und das blut tropft an ihrem arm hinab.
Jetzt kann ich meine orange nicht holen, wegen der, denkt er. Sie würde sie ihm wegnehmen, ihn schlagen oder sogar töten, um sie zu bekommen. Sie gibt nicht auf, sitzt da und weint, rotz an der nase und blut am arm. Er haßt diese frau, warum geht sie nicht, es wird doch immer dunkler, man kann die farben kaum noch unterscheiden, langsam zweifelt er, ob dieses lila so eine gute idee war, nirgendwo da oben kann er die plastikflasche erkennen.

Die Frau sieht ihn auf einmal an, still und aufmerksam, verstehend, sie weint nicht mehr.

,,Du hast etwas gefunden, nicht wahr?“

Sie lauert, strafft sich. Gleich wird sie aufstehen und auf ihn zugehen. Soviel größer und kräftiger ist sie, daß er weiß, er kann nur fortlaufen, solange sie noch sitzt, was ihm einen kleinen vorsprung gibt. Sie darf auch den klebstoff nicht finden, den würde sie ihm wegnehmen, eine ganze flasche, die für viele tage reicht.

Er rennt, stolpert über die halde, hört ihr schweres schnaufen und trampeln hinter sich, näher, immer näher kommt sie, schreit etwas, er springt, denn da ist etwas öliges, glitschiges im weg, er rennt mit seitenstichen, hört sie entsetzt kreischen und dumpf fallen. Es ist still, dann scheppert etwas und es ist wieder still. Er sieht sich um nach ihr. Dort liegt sie, ihr körper ist verdreht und zittert, irgendetwas unter ihr muß nachgegeben haben, denn sie liegt in einer art spalte. Jämmerlich quiekend und dünn schreit sie um hilfe, anscheinend kann sie sich außer einem bißchen zappeln nicht bewegen. Sie kann ihm nichts mehr tun.

Ruhig stapft er die halde hoch, um die lila plastikflasche zu suchen. Er sucht sehr lange, aber die jahre auf der halde haben ihn gelehrt, nicht die geduld zu verlieren, und so sucht er weiter, ab und zu wirft er mit blechdosen nach ratten, die sich quiekend davonmachen, dann hört er schwache schreie der frau, mal tritt er fehl und rutscht ein bißchen. Wie er es geahnt hatte, kann man inzwischen keine farbe mehr von der anderen unterscheiden, aber er wirft einfach jede plastikflasche, in der er nichts findet, weit fort, und irgendwann findet er die flasche mit der orange darin.

Es ist nacht, nur von der nahen stadtautobahn gibt die straßenbeleuchtung ein wenig licht. Vorsichtig krabbelt er die halde hinab, die kostbare frucht sorgsam unter seinem hemd verborgen. Noch ein oder zwei mal hört er die frau jammern, sie scheint sich langsam kriechend aus der spalte zu befreien, er will aber lieber nicht nachsehen, ein paar ratten hört er noch quieken, dann geht er mit raschen schritten den gewohnten heimweg.

Früher standen die hütten näher an der halde, aber im letzten jahr sorgten sie dafür, daß die vom flughafen kommenden reisenden nicht länger durch den anblick der rasch wachsenden hüttensiedlung gestört wurden. Der neue platz liegt direkt unter der haupteinflugschneise des flughafens und ist für die meisten der hüttenbewohner bei weitem nicht so schön wie der alte. Seine mutter jammert mit den anderen frauen darüber, daß zum trocknen aufgehangene wäsche vom vor der landung abgelassenen kerosin verschmutzt wird, viele leute haben kopfschmerzen davon und von dem lärm, er aber liebt es, die silbrigen bäuche der flugzeuge von unten zu betrachten, das ausfahren des fahrwerks und schließlich das aufsetzen auf der landebahn.

„Iß," sagt er zu seiner schwester, ,,ich hatte zwei, meine habe ich schon auf dem weg gegessen, weil mir schwindlig war vor hunger." Die schwester streichelt ihm über das eitrig verschorfte händchen und lächelt erst ihn und dann die orange an. Er denkt an die kinder unter der plane, die er im vorbeigehen weinen gehört hat. Er nimmt zwei kleine plastiktüten und geht zu den kindern unter der plane, um ihnen ein wenig von seinem klebstoff abzugeben. Dann macht ihnen heute abend der hunger nichts aus, denkt er, denn ihre mutter wird heute lange brauchen, bis sie heimkommt und wenn, dann hat sie nichts zu essen für die beiden. Sie sollte es so machen wie unsere mutter, denkt er bei sich, abends weggehen, es ist ja nicht viel, aber ein bißchen ist es doch, und genug zu trinken kriegt sie auch immer.

von Nina Dorfmüller