Wer bin ich? Und wenn ja, wie viele?
- arg strapaziert, ein geflügeltes Wort inzwischen, und dennoch – es passt einfach zu gut, um es deswegen zu verwerfen.
Bisher hatte ich Daniel viele Jahre lang als Musiker erlebt, der „seine Töne“ auf der Bühne lebt, der wie niemand anderer, den ich auf der Bühne erlebt habe, Emotionen transportiert, der eine besondere Atmosphäre erzeugen kann und mit seinem Gesang zutiefst berührt, der aus dem Moment heraus agiert, variiert, improvisiert und seine Songs bei jedem Konzert immer neu erfindet.
Jetzt steht er als Schauspieler auf der Bühne und zeigt uns viele andere Facetten - Rollenfiguren im darstellenden Spiel.
Im Februar schrieb er auf seiner Facebook-Seite:
Seit ich Schauspiel studiere, weiß ich immer mehr, wer ich bin. Früher habe ich immer versucht jemand zu sein, der ich nicht bin. Also habe ich sozusagen eine Rolle gespielt. Mittlerweile spiele ich nur noch eine Rolle auf der Bühne und im echten Leben zeige ich meine natürliche Seite. Ich traue mich auch manchmal wieder verrückt zu sein, auch das habe ich im Erwachsensein verlernt. Verrückt sein und seriös sein kann ich mittlerweile gut verbinden. Ja! Ich fühle mich eigentlich rund um wohl. (Daniel Küblböck)
Offenbar wirkt es befreiend, dieses Studium anderer Charaktere, das Herausfinden, was sie kennzeichnet, was ihre Eigenschaften sind und das danach Suchen in sich selbst: Was und wie viel davon habe ich in mir? Sich ausloten und neu entdecken.
Zwei Zitate dazu: „Der wahre Schauspieler ist von der unbändigen Lust getrieben, sich unaufhörlich in andere Menschen zu verwandeln, um in den anderen am Ende sich selbst zu entdecken.“ (Max Reinhardt)- „Schauspieler gewinnen die Herzen und geben die ihrigen nicht hin; sie hintergehen, aber mit Anmut.“ (Goethe: Maximen und Reflexionen)
Schon mehrmals konnten wir Daniel als Schauspieler auf der Theaterbühne erleben (ich selbst leider erst einmal) und das weckt natürlich das Interesse daran, sich etwas näher mit dem Thema Theater zu beschäftigen. Ich habe einerseits etliche Bühnenstücke gelesen, andererseits auch Theaterstücke erlebt. Aber dazwischen klafft ja eine Lücke. Diese Personen in den Bühnenstücken, die beim Lesen in meiner Phantasie Gestalt annehmen, werden auf der Bühne zu realen Figuren. Wie passiert das? Man gebraucht ja häufig den Ausdruck „in Rollen schlüpfen“. Aber so einfach wird das mit dem „Schlüpfen“ nicht sein. Eine Rolle hängt ja nicht wie eine zweite Haut in der Garderobe gleich neben dem Kostüm und man muss sie nur noch überstreifen und fertig ist der neue Mensch. Wie schafft man sich eigentlich diese „neue Ganzheit aus Körper, Seele und Geist“?
Auf welche Weise nähert man sich dieser anderen Person an, die man darstellen wird. Wie gelingt es dem Darsteller, sie glaubhaft, realistisch und in ihrer ganzen Vielfalt zu verkörpern?
Man sagt ja, Schauspielen ist ein Handwerk, und wenn man auf die Lehrpläne von Schauspielschulen schaut, findet man Ausbildungsinhalte, wie Stimme, Sprechen, Gesang, Musik, Darstellen, Tanz, Ballett, Pantomime und Musical, auch Judo, Kämpfen, Fechten und Theatertheorie, -geschichte. Das alles ist Rüstzeug. Aber wie sieht der Weg aus, der nach innen führt? Wie fühlt man sich in eine Rolle ein? Dazu hab ich mich im Bereich Theorien und Methoden auf die Suche begeben.
Ich bin da beim Durchblättern eines Buches über ein Zitat von Hans-Ulrich Becker (Theaterregisseur) gestolpert: „Das Verblüffende ist, wenn man alle Schauspieltheorien, die es so gibt, mal untersucht, gibt es eigentlich nur zwei Methoden: Die eine heißt „von innen nach außen“, die andere heißt „von außen nach innen“. Diesen beiden Prinzipien sind letztendlich alle Methoden und Techniken zuzuordnen.“ Also während der eine mehr von innen inspiriert wird und sich durch seine Phantasie die Emotionen seiner Rollenfigur aufbaut und erst danach den passenden körperlichen Ausdruck findet, ist für den anderen das Einnehmen von typischen Körperhaltungen und –bewegungen und Mimik der Ausgangspunkt. Er geht also von außen nach innen und spürt so die Gefühle seiner Rollenfigur auf. Ziel ist es, einen Charakter nicht zu spielen, sondern eins mit ihm zu werden.
Spannend in diesem Zusammenhang ist auch die Tatsache, dass jeder Darsteller – oder Rollenträger – ja anderes „Eigenmaterial“ (Emotionen, Erfahrenes, Phantasien…), mitbringt, das er in eine Rollenfigur einbringt. Deshalb spielt jeder Schauspieler diese Figur anders. Seine Persönlichkeit prägt die Rollenfigur, dieser andere Mensch „geht durch ihn hindurch“ und der Schauspieler schafft so mit seiner Rollenperformance etwas Einzigartiges.
Kürzlich habe ich ein Interview mit Ethan Hawke zu seinem neuen Film (Born to be blue) gelesen, in dem er gefragt wird, warum er mit seiner Darstellung des Musikers Chet Baker die Grenze zwischen sich als Schauspieler und seiner eigenen Persönlichkeit verwischt habe. „Das versuche ich schon seit längerer Zeit ganz bewusst zu tun. Denn nur so erfahre ich auch etwas über mich. Diese „Entdeckungsreisen ins Ich“ wurden mir in den letzten Jahren immer wichtiger. ... Große Schauspielkunst geht immer über die einzelne Figur hinaus und erzählt vom Menschsein, von der Conditio humana. Um diese Wahrhaftigkeit als Schauspieler erreichen zu können, muss man schon ein gutes Stück weit seine eigene Seele in die Rolle hineinfließen lassen.“ Chet Baker - eine sehr komplexe Persönlichkeit mit vielen Facetten ... -... und genau deshalb war es für mich auch einfacher, Berührungspunkte in meinem Charakter zu finden, die sich mit seinem überschneiden. Ich konnte mich zum Beispiel sehr gut in seine Einsamkeit einfühlen. Oder in seine Besessenheit und seine künstlerischen Sehnsüchte.“
Einfühlen. Man sucht also in sich Berührungspunkte mit der zu spielenden Rolle. Aber welche Schritte geht man beim Erarbeiten einer Rolle? Wie funktioniert das mit dem Einfühlen? Wie wird dieser andere Charakter in seiner ganzen Komplexität im Darsteller lebendig?
Wenn man nach Informationen über das Thema „Einfühlung in eine Rolle“ auf die Suche geht, stößt man unweigerlich auf den Namen Konstantin Sergejewitsch Stanislawski (1863–1938), ein russischer Theaterreformer, der ein Vertreter des Naturalismus war. Er rief seine Schauspieler zur „unbedingten Wahrhaftigkeit“ auf und entwickelte ein gezieltes Schauspieltraining und eine Schauspieltheorie. „Wir wollen zu verstehen versuchen, wie wir lernen können, auf der Bühne nicht schauspielerisch, sondern menschlich zu handeln, einfach, natürlich, organisch; folgerichtig, frei, nicht nach den Konventionen des Theaters, sondern nach den Gesetzen der lebendigen, organischen Natur.“ (Stanislawski) Gefühle werden nicht dargestellt, sondern von den Darstellern auf der Bühne real erlebt. Die Rollen sollen sozusagen im Körper der Schauspieler lebendig werden. Durch „Identifikation“ fühlt sich der Schauspieler in die Rolle ein und verschmilzt mit den Eigenschaften der Rollenfigur und dabei „vergisst“ er seine eigene Identität temporär. Einer seiner Schüler, Lee Strasberg, entwickelte Stanislawskis Überlegungen an der New Yorker "School of Dramatic Arts" zum sogenannten Method Acting weiter. Beide gelten heute als die Hauptvertreter des Prinzips der Einfühlung. Ihre Methoden erfordern eine oft sehr zeitaufwendige und intensive Auseinandersetzung mit der zu verkörpernden Rolle, der eigenen Persönlichkeit und den eigenen Erfahrungen: Die Darsteller analysieren und entwickeln den Rollencharakter, seine Biografie, Motivationen und Beziehungsgeflechte. Sie analysieren die Situation, in der sie in ihrer Rolle agieren, erschließen das Wann, Wo oder Warum der Handlung, um die genauen Umstände zu verstehen. Sie stellen einen persönlichen Bezug her, versetzen sich in die jeweilige Situation und suchen in ihrem emotionalen Gedächtnis nach Erfahrungen, in denen sie die Empfindungen der Figur erlebt haben. Sie entwickeln Techniken, wie sie die Erinnerung an diese Situationen so präsent auf der Bühne machen können, dass sie die Gefühle auf der Bühne real und jederzeit wiederholbar empfinden können.
"Ists nicht erstaunlich, dass der Spieler hier Bei einer bloßen Dichtung, einem Traum Der Leidenschaft, vermochte seine Seele Nach eignen Vorstellungen so zu zwingen, Daß sein Gesicht von ihrer Regung blaßte, Sein Auge naß, Bestürzung in den Mienen, Gebrochne Stimm und seine ganze Haltung Nach seinem Sinn. Und alles das um nichts!" (William Shakespeare - Hamlet, II/2) |
Für diese Arbeit ist eine sehr hohe Konzentration nötig, die einige schon mitbringen, die man aber auch trainieren kann – um sich Blicke, Worte, Stimmen, Töne, Bewegungen, Abläufe, Stimmungen, Orte, Gegenstände etc. möglichst über mehrere Sinne, also auf vielen Ebenen parallel, einprägen zu können.
Der Schauspieler soll sich immer völlig auf sein Spiel, auf seine Mitspieler konzentrieren und mit den Zuschauern nicht in Interaktion treten. Stanislawski verlangte vom Schauspieler, sich auf der Bühne die sogenannte „vierte Wand“* zum Publikum hin zu bauen. Man solle sich von den Zuschauern trennen, nicht für sie spielen, sondern die Rolle wirklich durchleben, meinte er. Hier und jetzt - so lautete sein Prinzip. „Nur was Schauspieler erleben, können sie verkörpern“, sagte Stanislawski.
Zum Einfinden in ihre Rollen begegnen sich die Schauspieler zunächst in Improvisationen und gehen dann weiter in die Szenen des zu spielenden Stücks.
Neben dem Stanislawski-System wurde das 20. Jahrhundert vom Brecht-System - dem Epischen Theater - geprägt.
Bertolt Brecht (1898-1956) hatte andere Vorstellungen vom Schauspiel. Im Gegensatz zu Stanislawskis Methode der Einfühlung entwickelte Bertolt Brecht die Technik der Verfremdung. Seiner Ansicht nach sollte das Bühnengeschehen keine Illusion der Wirklichkeit herstellen, sondern eine Demonstration von Umständen sein. Seine Forderung war ein analytisches Theater, welches das Publikum nicht zum Einfühlen auffordert, sondern zum Nachdenken und Hinterfragen anregt.
Der Schauspieler solle sich nicht mit seiner Rolle identifizieren und sich vollständig in sie verwandeln, sondern sie beim Spiel ständig in Frage stellen. Er soll nicht fühlen, sondern zeigen, und das Publikum soll nicht mitfühlen, sondern nachdenken und reflektieren.
Brechts Episches Theater will durch die Darstellung großer gesellschaftlicher Konflikte die soziale Ungerechtigkeit und diese Konflikte durchschaubar machen um die Zuschauer dazu zu bewegen, die Gesellschaft zum Besseren zu verändern.
Die Schauspieler analysieren das Stück vor dem Hintergrund des historischen Kontextes und stellen Bezüge zur aktuellen gesellschaftlichen Situation her. Sie finden heraus, wie sie ihre Rollen und die Geschichte dazu verwenden können, wichtige aktuelle Themen zu verhandeln.
Sie beobachten ihre Mitmenschen und deren Verhalten und suchen nach Parallelen zum Verhalten ihrer Figur. Sie fragen sich: „Wie habe ich schon einen Menschen etwas Ähnliches sagen hören oder tun sehen?“ und entwickeln daraus Teile ihrer Figur. Durch Verfremdungseffekte wird immer wieder Distanz zu den Figuren geschaffen. Die Darstellenden treten beispielsweise aus ihrer Rolle heraus, sprechen das Publikum direkt an, reden von der Rolle in der dritten Person, sprechen Kommentare oder Regieanweisungen mit oder verpacken Inhalte in Songs. Dadurch wird die Modellhaftigkeit des Geschehens auf der Bühne transparent und die Figuren erscheinen fremd – das Publikum wird zum kritischen Denken angeregt. Aber auch hier gibt es Identifikation - nicht mit der emotionalen, sondern mit der sozialen Situation der Protagonisten. Gesellschaftliche Zustände werden gezeigt und wiedererkannt - was nur durch Identifikation des Zuschauers mit dem Dargestellten möglich ist.
„Die vierte Wand“
Die vierte Wand ist die zum Publikum hin offene Seite der Bühne. Sie wurde zum zentralen Begriff in der Theorie des naturalistischen Theaters. Die Darsteller müssen sie im Spiel als vorhanden beachten, dürfen sie nicht durchschreiten und nicht mit dem Publikum in Interaktion treten. Der Zuschauer soll sich wie ein unsichtbarer Beobachter der Realität fühlen. Bertolt Brecht hingegen wollte sein Publikum aktivieren und zum Nachdenken bringen. Dazu musste es aus seinem passiven Zustand erwachen, indem die vierte Wand aufgelöst, gängige Konventionen gebrochen und die Identifikation gestört wird, zum Beispiel durch das bewusste Aufzeigen von Bühnentechnik oder das direkte Sprechen zum Publikum.
Mit diesem Hauch einer Ahnung, wie Darsteller sich ihre „zweite Haut“ schaffen, möchte ich gern noch einen Blick auf die Charaktere werfen, die Daniel bei den einzelnen Szenenstudien gespielt hat, und auf das jeweilige Stück.