"All the world's a stage"-Die ganze Welt ist Bühne
Unser tägliches Miteinander aus der Theater-Perspektive zu betrachten, einfach mal „nur“ aus der des Zuschauers, macht doch jeder gern: Beispielsweise sitzt man in einem Straßencafé und nimmt einfach die Szenerie wahr, die sich vor einem auftut… ;) Man trinkt einen Kaffee, liest eine Zeitung oder ein Buch – und beobachtet zwischendurch. Im Vorübergehen „erzählen“ die Menschen lauter kleine Geschichten. Mir fallen in diesem Zusammenhang die Boulevards ein, die Flaniermeilen als Bühne, die „viae triumphalis der Bourgeoisie“ (Klaus Hartung) – ein Ort, wo sich seinerzeit das Bürgertum inszenierte. „Die Boulevards sind die großen Bühnen der Welt. Ob auf den Champs-Élysées, dem Newskj Prospekt, dem Londoner Strand, dem Broadway, der Maximilianstraße, dem Wenzelsplatz, den Ramblas oder dem Kurfürstendamm – hier gibt sich der Geist eines Ortes und einer Zeit unvergleichlich zu erkennen. Auf den großen Straßen … paradiert gleichsam eine Epoche. Glamour und Halbwelt, Hochkultur und Kurioses treffen sich auf dem Boulevard, Inszenierung und Alltag gehen eine unverwechselbare Verbindung ein.“ (Boulevards, die Bühnen der Welt, 1997) „Solche Plätze sind recht eigentlich gemacht, dem Volk mit sich selbst zu imponieren, das Volk mit sich selbst zum besten zu haben.“ (Goethe, Italienische Reise) Orte und Plätze des Sehens und gesehen Werdens gibt es nach wie vor oder sie werden generiert, wie z.B. „RedCarpet Events“.
Wenn wir dann das Geschehen verfolgen, sind wir nur stille Beobachter, die anderen sind die Akteure. Denken wir. Aber wir agieren ja auch in einer Rolle. Wenn wir in der Öffentlichkeit unterwegs sind, immer sind wir beides zugleich: Akteur und Publikum.
Blicken wir einmal zurück: Das Theater gibt es, seit es Menschen gibt. („Geschichte des Theaters“/IE 29). In der Antike, vor 2500 Jahren, sind mit der Tragödiendichtung Stücke entstanden, die heute noch weltweit gespielt werden, weil sie jene Sinnfragen stellen, die die Menschen bis heute bewegen, zum Beispiel Aischylos (525-456 v. Chr.): die Perser/die Orestie; Sophokles (497-406 v. Chr.): Antigone/ König Ödipus; Euripides (480-406 v. Chr.): Medea/ Iphigenie in Aulis/Elektra/Die Bakchen. Neben diesem literarischen Theater gab es aber auch damals schon das sehr populäre plebejische Theater der Gaukler und Komödianten, das dem Spaß und dem Spott galt.
Das Theater hat im Leben der Menschen also schon immer „eine große Rolle gespielt“ und man könnte es als „Urkunst“ der Menschheit bezeichnen. Begriffe aus dem Theater gehören zu unserem alltäglichen Sprachgebrauch. Wir sprechen z.B. von der „Politikbühne“, der „Weltbühne“, vom „Lampenfieber“, das man nicht nur vor einem Auftritt, sondern auch vor einer Prüfung haben kann - und vom „Blackout“, der ursprünglich das komplette Verlöschen der Scheinwerfer als Ende einer Szene beschrieb. Wir kennen den „Theaterdonner“ und Wendungen wie „eine Szene machen“, „aus der Rolle fallen“ oder „ein Mordsspektakel veranstalten“ und die „Koryphäe“, die in der Antike noch der Chorführer der griechischen Tragödie war. Ja, und wenn für uns „der letzte Vorhang“ gefallen ist, ist unser Spiel auf dieser Erde beendet. Dann sind wir tot. Seltsam aber, dass uns „Was für ein Theater!“ oft über die Lippen kommt, wenn wir eine Szene erleben, für die ein Drehbuch offenbar nicht existiert, ein Regisseur nicht in Sicht ist, die „Spieler“ ihre Rollen nicht kennen und wenn doch - aus ihnen fallen; kurz: wenn blankes Chaos herrscht.
Der Satz, den ich für die Überschrift gewählt habe „All the world's a stage“ - „Die ganze Welt ist Bühne“ stammt aus William Shakespeares Feder. Mit diesem berühmten Satz beginnt Jacques, ein Edelmann, in der Komödie „As you like it“ / „Wie es euch gefällt“ (verfasst ~1599) einen Monolog, in dem er das Menschenleben mit einem Theaterstück in sieben Aufzügen vergleicht:
Jacques: Die ganze Welt ist eine Bühne und alle Männer und Frauen sind nur Spieler. Sie haben ihren Abgang und ihren Auftritt; Und mit der Zeit spielt ein Mann viele Rollen, denn seine Akte sind die sieben Alter. Erst Kind, das weint und spuckt im Arm der Pflegerin, dann Schuljunge, noch weinerlich, mit seinem Ranzen und glatten Morgenwangen, kriechend wie eine Schnecke unwillig zur Schule.
Und der Verliebte dann, der seufzt, als wär er ein Ofen, und ein jammervolles Liedchen auf seiner Liebsten Augen singt,
Und dann kommt der Soldat voll nie gehörter Flüche, bärtig gleich einem Pardel, eifersüchtig auf seine Ehre, schnell zum Streit bereit. Er sucht die Seifenblase seines Ruhmes Selbst im Kanonenmund. –
Und dann der Richter mit rundem Bauch, gut mit Kapaun gefüllt, mit strengem Blick und mit gepflegtem Bart, voll alter Sprüche, neuer Beispiele; So spielt er seine Rolle. - Sechstes Alter: Der Pantalon, hager, in Schlappen, auf der Nase die Brille, Beutel ihm zur Seit‘, die Hose ist noch gut, doch viel zu weit für die verschrumpften Lenden. Und die Stimme, die tief und männlich war, wendet sich wieder zum kindischen Diskant und pfeift und quiekt bei jedem Wort.
Die letzte Szene endlich, die diese seltsame Geschichte abschließt, ist zweite Kindheit und dann nur Vergessen, ohne Augen, Zähne, Zunge, ohne alles.
Jacques: All the world's a stage, and all the men and women merely players: They have their exits and their entrances; And one man in his time plays many parts, his acts being seven ages.
At first the infant, mewling and puking in the nurse's arms. And then the whining school-boy, with his satchel and shining morning face, creeping like snail unwillingly to school.
And then the lover, sighing like furnace, with a woeful ballad made to his mistress' eyebrow.
Then a soldier, full of strange oaths and bearded like the pard, jealous in honour, sudden and quick in quarrel, seeking the bubble reputation even in the cannon's mouth. And then the justice, in fair round belly with good capon lined, with eyes severe and beard of formal cut, full of wise saws and modern instances; And so he plays his part.
The sixth age shifts into the lean and slipper'd pantaloon, With spectacles on nose and pouch on side, his youthful hose, well saved, a world too wide for his shrunk shank; and his big manly voice, turning again toward childish treble, pipes and whistles in his sound.
Last scene of all, that ends this strange eventful history, is second childishness and mere oblivion, Sans teeth, sans eyes, sans taste, sans everything.
William Shakespeare "Wie es euch gefällt" (As you like it) II/ 7
Auch das shakespearesche Globe Theatre weist in einer lateinischen Inschrift auf den Zusammenhang hin: Totus mundus agit histrionem (Die ganze Welt handelt als Schauspieler). Der Inschrift liegt die in die Antike zurückreichende Vorstellung vom Welttheater (Theatrummundi) zugrunde, wonach die Welt als ein Theater aufgefasst wird, auf dem die Menschen vor Gott ihre Rollen spielen.
Ich bin bei der Suche nach Informationen zum Thema auf ein Buch gestoßen, das der Soziologe Erving Goffman (1922-1982) 1959 geschrieben hat: „Wir alle spielen Theater“ (The presentation of self in everydaylife), in dem er reale Alltagssituationen mit den Gegebenheiten vor, hinter und auf einer Theaterbühne vergleicht. Von dieser Vorstellung, dass unser Alltag wie eine Theatervorstellung aufgebaut ist, ausgehend, beschreibt er den Umgang des Individuums mit seinen Rollen, sein Rollenverhalten, seine Selbstinszenierung. In aller Kürze möchte ich gern ein paar Punkte daraus nennen.
Nach Goffmans Theorie spielt jeder Mensch ein Stück weit Theater. Wir alle betreiben im sozialen Kontakt - oft nicht einmal bewusst – Selbstdarstellung. Der Mensch inszeniert sein Auftreten, nimmt verschiedene Rollen an und versteckt sein wahres Ich oft hinter einer Fassade. Ziel einer Darstellung ist nicht ihr Wahrheitsgehalt, sondern ihre Glaubwürdigkeit (Impression Management). Goffmans Ausgangsfrage war: wie schaffen wir es überhaupt, Gesellschaften zu erhalten, zusammenzuleben, denn unsere soziale Wirklichkeit ist zerbrechlich und die Regeln sind nicht immer klar. Um mit dieser Zerbrechlichkeit, dieser Unwägbarkeit umzugehen, müssen wir Situationen gestalten. Das, was wir „Gesellschaft“ nennen, ist aus Bausteinen alltäglicher Situationen zusammengesetzt. Menschen begegnen einander und treten in direkten oder indirekten Kontakt. Während dieser Begegnungen befindet sich jeder in der Darstellung einer Rolle vor einem Publikum. Zu jeder Rolle gehört eine „Fassade“, die sich aus dem „Bühnenbild“, der „Erscheinung“ und dem „Verhalten“ zusammensetzt. Wir passen unsere Performance den vom sozialen System abhängigen Erwartungen, Werten, Handlungsmustern und Verhaltensweisen an. Wir setzen eine Maske auf (So wie er sein möchte, zeigt der Mensch sich, nicht so wie er tatsächlich ist) - um einen gewissen Eindruck von uns zu erzeugen und setzen uns in Szene, spielen Theater. Als Schüler, Lehrer, Mutter, Verkäufer, Ehemann – jeder spielt immer auf ganz verschiedenen Bühnen. Wir versuchen stets ein Bild von uns zu zeigen, das jeweils auf die Situation und auf unsere Mitmenschen sowie deren Rollen zugeschnitten ist. Im Kern geht es Goffman um die sozialen Interaktionsordnungen, also wie sich Menschen in der Gegenwart anderer Menschen verhalten und sich gegenseitig beeinflussen.
"Diese Ausgestaltung von Situationen ist zugleich eine Art Erzeugung von Wirklichkeit. Wir machen Wirklichkeit im sozialen Handeln. Dieses Machen, dieses Herstellen von sozialer Wirklichkeit ist vergleichbar mit dem, was auf der Theaterbühne, im Schauspiel passiert. Auch hier wird eine Wirklichkeit durch die Akteure hergestellt, und für das Publikum erscheint diese Wirklichkeit, solange die Situation sich in diesem Rahmen der Theateraufführung befindet, als wirklich". (Jürgen Raab) https://www.swr.de/-/id=14333608/property=download/nid=660374/12ei8z2/swr2-wissen-20141121.pdf )
Goffman bringt auch das Bild von der Front- und der Backstage. Auf der Frontstage findet das Schauspiel statt, und backstage werden die Rollen eingeübt und auch in Frage gestellt.
Es ist wohl kein historischer Zufall, dass das Wort Person in seiner ursprünglichen Bedeutung eine Maske bezeichnet. Darin liegt eher eine Anerkennung der Tatsache, dass jedermann überall und immer mehr oder weniger bewusst eine Rolle spielt … In diesen Rollen erkennen wir einander; in diesen Rollen erkennen wir uns selbst. In einem gewissen Sinne und insoweit diese Maske das Bild darstellt, das wir uns von uns selbst geschaffen haben – die Rolle, die wir zu erfüllen trachten -, ist die Maske unser wahreres Selbst: das Selbst, das wir sein möchten. Schließlich wird die Vorstellung unserer Rolle zu unserer zweiten Natur und zu einem integralen Teil unserer Persönlichkeit. Wir kommen als Individuen zur Welt, bauen einen Charakter auf und werden Personen.
(Goffman)
Unser Rollenverhalten ist aber auch auf unser evolutionäres Erbe zurückzuführen. So verteidigen wir das Revier, weil wir in der Regel Ressourcen investiert haben, um es zu erlangen, z.B. die Liege am Pool, für die wir mit der Buchung des Hotels Geld ausgegeben haben. Und wir spielen auch oft die Rolle des Wächters über unser Territorium - weshalb Fensterplätze in Restaurants sehr beliebt sind. Dort kann man den Überblick behalten, was unserem Kontrollbedürfnis entgegenkommt. So war das schon vor 10.000 Jahren als der Lagerplatz bewacht werden musste.
Mit Social Media hat sich eine weitere Bühne aufgetan. Da muss man sich nicht mehr aufraffen und hinaus bemühen, sondern kann in einer oder mehreren Rolle(n) auch mit anderen agieren, wenn man allein zuhause ist. Im Netz trifft man auf jede Menge von Selbstdarstellungen, die nicht unbedingt der Wahrheit entsprechen müssen. Man kann sich nach Herzenslust „in Szene setzen“. Das Spielen einer Rolle, das Annehmen einer erfundenen Identität ist z.B. bei Facebook oder Twitter weitverbreitet. Je nach Bühne und Publikum und je nach Ensemble, je nach Akteuren, mit denen man zusammen auf diesen Bühnen agiert, kann man Gesichter, Images und das ganze Drum und Dran ganz unterschiedlich ausgestalten. Erving Goffman nennt die Konstrukteure solcher Images und Masken „zynische Darsteller“: Es geht nicht nur um Selbstausdruck, sondern auch um die Erzeugung von Wirkung beim zuschauenden Mitmenschen. Hier werden „Fassaden“ konstruiert.
Stichwort Youtube: Viele wählen auch gern diese Plattform aus, wenn sie etwas mitteilen oder performen möchten – und die ganze Welt kann zuschauen. Jeder kann sich dort anmelden und dann live auf Sendung gehen. Viele „Performer“ haben Millionen von Followern.
Es gibt ja auch die sehr beliebten Computer-Rollenspiele (seit ca. Mitte der 1970er Jahre), die am Rande auch noch erwähnt werden sollen, in denen man sich eigene Spielercharaktere schaffen und in erdachten oder adaptierten Welten verschiedenster kultureller, sozialer und zeitlicher Hintergründe agieren kann. Sie entstanden etwa Mitte der 1970er Jahre.
Und natürlich wird auch in der Musik die Analogie zwischen unserem Leben und dem Theater thematisiert, beispielsweise in QUEEN‘S „THE SHOW MUST GO ON“
„Empty spaces - what are we living for?
Abandoned places - I guess we know the score…
On and on! Does anybody know what we are looking for? Another hero - another mindless crime.
Behind the curtain, in the pantomime.
Hold the line! Does anybody want to take it anymore?
The Show must go on!
The Show must go on! Yeah!
Inside my heart is breaking,
My make-up may be flaking,
But my smile, still stays on!”
LIZA MINNELLI singt in „Cabaret“:
“Start by admitting
From cradle to tomb
It isn't that long a stay.
Life is a Cabaret, old chum
Only a Cabaret, old chum
And I love a Cabaret.”
Und KATJA EBSTEINS Lied „THEATER“ -
“Sie setzen jeden Abend eine Maske auf
Und sie spielen
Wie die Rolle es verlangt.
An das Theater haben sie ihr Herz verkauft
Sie stehn oben und die unten schaun sie an.
Sie sind König Bettler Clown im Rampenlicht
Doch wie's tief in ihnen aussieht sieht man nicht –
Theater, Theater
Der Vorhang geht auf
Dann wird die Bühne zur Welt.
Theater, Theater
Das ist wie ein Rausch
Und nur der Augenblick zählt.“
landete 1980 beim ESC sogar auf dem 2. Platz.
Das Schlusswort in diesem Beitrag soll Daniels Pianist Thomas Gwosdz gehören, der das „Theaterthema“ bei Daniels Konzerten hin und wieder – mal lauter, mal leiser, mal mehr, mal weniger nachdrücklich - intoniert hat.
“Na nana Na nana Na na Na nana Na nana Na na
Talking ‘bout you and me, yeah
And the games people play.
Oh, the games people play now
Every night and every day now
Never meaning what they say, yeah
Never saying what they mean.”
Text: Evelyne Dörning
(c)
Collagen: Evelyne Dörning
Fotos: Daniel-Kaiser Küblböck, D. Luxa, P.Grabienski
Zeichnungen: Iris O.
Quelle: Erving Goffman: Die soziale Welt als Rollenspiel, SWR 2014
Erwing Goffman: Wir alle spielen Theater